Biketour
über den Pass da Costainas und den Passo di Slingia/Schlinigpass (I)
Tourenbeschreibung:
Während meiner Herbstferien im Unterengadin unternahm ich diese
von landschaftlichen Reizen geprägte 87 km lange Tour. Von meinem
Feriendomizil Tarasp, wo ich um 10.30 Uhr startete, führte mich
die Route via den Weiler Avrona und einem steilen Abstieg über
die Hochwasser führende Clemgia-Schlucht ins schöne Val S-charl.
Bereits auf den ersten Metern vom Ferienhaus weg stellte ich fest, dass
die Schaltung am Bike, welches in der Woche zuvor beim «Schrauber»
im Service war, nicht optimal funktionierte. Die neue Kette sprang unablässig
das Ritzelpaket rauf und runter. «Wes de nid geit, muesch haut
de eifach es Vierteli drääije» gab mir der gute Mann
mit auf den Weg. Total genervt vom ewigen Ruckeln der Pedale, wünschte
ich ihn ins Pfefferland. Irgendwie schaffte ich es während dem
Fahren endlich die Schaltung so einzustellen, dass sie ohne zu Rucken
und ohne Schleifen am Umwerfer, welchen ich dummerweise in der Hitze
des Gefechts selbst verstellt hatte, ihre Arbeit tat. In S-charl, wo
ja bekanntlich 1904 der letzte Bär in der Schweiz erlegt wurde
und bis im 18. Jahrhundert Erz abgebaut wurde (Eingangs des Dorfes sind
noch einige Ruinen aus dieser Zeit zu sehen), war nicht zu übersehen,
dass die Grünröcke Saison hatten. Beinahe bei jedem Haus lag
ein erlegter Hirsch, schön drapiert mit dem unvermeidlichen Tannenzweig
im Mund, auf einem Anhänger oder auf der Ladebrücke eines
Autos.
Eine gute Naturstrasse führt mit angenehmer Steigung talaufwärts,
vorbei an Wanderern, welche auch vom herrlichen Wetter profitierten
und zu Fuss in Richtung Nationalpark unterwegs waren. Bis zur Alp Astras
auf 1900 m gelegen, konnte ich in der Folge etwas von der verlorenen
Zeit wettmachen. Unmittelbar nach der Alphütte begann - glücklicherweise
nur für wenige Meter - das von mir nicht besonders geliebte «Muttefräse»
(fahren auf Gras). Nach drei kleinen Bachpassagen folgte der praktisch
menschenleere Singeltrail durch ein Legföhrenwäldchen und
über tief ausgetretene Wiesenpfade hinauf zum Pass da Costainas
(2251 m). Nach zwei Stunden Fahrzeit hatte ich gerade mal «lumpige»
25 km zurückgelegt!
Nach einer kurzen Verpflegungspause nahm ich die im obersten Teil verblockte
Abfahrt in Angriff. Mit der «Sänfte» ein wahres Vergnügen!
Die heikle Passage nötigte zwei deutsche Biker abzusteigen. «Mensch
ist das aber steil hier!». Zu mehr als einem flüchtigen Hallo
meinerseits reichte es nicht, denn die Passage verlangte volle Konzentration.
Bald war das steile Stück Geschichte und auf gutem Schotterweg
passierte ich das Örtchen Lü. Auf einem schmalen, asphaltierten
Strässchen ging es weiter ins Tal hinunter nach Lüsai und
Sta. Maria. Eine knappe halbe Stunde nachdem ich auf dem Pass da Costainas
losgefahren war, fuhr ich bereits in Mùster beim italienischen
Zoll vor. (Anmerkung: aus zeitlichen Gründen fuhr ich bis Laatsch
auf der Hauptstrasse) Angesichts der kommenden Strapazen verpflegte
ich mich recht ausgiebig mit High Five und Bananenriegeln. Bis Laatsch
im Vinschgau ging die Fahrt in Wellen, immer noch weiter hinunter auf
1000 m über Meer. Vorgesehen hatte ich den Anstieg zum Passo di
Slingia von Mals aus, vorbei am Kloster Burgeis bis zum Weiler Schlinig
auf einer geteerten Strasse. Was mich jedoch bewog bereits in Laatsch,
dem Wegweiser «Schlinig» zu folgen, ist mir im Nachhinein
ein Rätsel. Kurz und Gut, wie ich die letzten Häuser hinter
mir gelassen hatte, ging es so richtig zur Sache. Die Forststrasse war
steil und der Untergrund so lebendig, dass Anhalten einen längeren
Marsch bedeutet hätte. Serpentinenartig schraubte sich der Weg
im Wald unaufhaltsam in die Höhe. Nach ca. 30 Minuten und leicht
brennender Oberschenkelmuskulatur endlich ein winziges flaches Stück
Weg. Das Panorama war enorm und entschädigte den einsamen Kämpfer.
Der Blick schweifte links in Richtung Reschenpass und rechts in Richtung
Schluderns und Ortler.
Nachdem die Aussicht genossen und fotografiert war, fasste ich neuen
Mut und kurbelte tief über den Lenker gebeugt, weiter hoch. In
Gedanken versunken erfasste ich aus den Augwinkeln Wegweiser, welche
mich aus meiner Lethargie rissen. Es waren Wegweiser zu bewirtschafteten
Alpen, nur jenen zum Weiler Schlinig, den konnte ich nicht finden. Plötzlich
beschlichen mich Zweifel, ich hatte das dumpfe Gefühl bereits zu
hoch und in die falsche Richtung gefahren zu sein. Ohne das nötige
Kartenmaterial und keine Menschenseele weit und breit, wird man bald
einmal unsicher. Also Entschloss ich mich die mühsam erklommenen
Höhenmeter wieder zu vernichten und zur nächsten Weggabelung
hinunter zu fahren. Rein zufällig sah ich dann etwa 30 Meter von
der Kreuzung entfernt einen Wegweiser an einem Baum. Und dieser zeigte
mir wo’s lang ging. Bald folgte der Weg einem Bachlauf, gleichsam
in der Vertikalen und oben, weit oben glaubte ich Häuser zu erkennen.
Die Beine vom harten Trail schwer wie Litfasssäulen, erreichte
ich den Weiler Schlinig. Zunächst erstaunte mich der Rummel welcher
in und um den Weiler herrschte. Überall parkten Stahlkarossen,
es war kein freier Platz auszumachen. Bis zur ersten Hütte auf
der äusseren Alp, auf mehrheitlich ebener bis leicht steigender
Strasse flanierten Sonntagsspaziergänger. Ich war schon etwas spät
dran, deshalb fuhr ich ohne Halt weiter über die innere Alp, hoch
zur Sesvenna-Hütte. Bald aber hatte es sich ausgefahren nicht etwa
weil, wer sein Bike liebt, der schiebt, sondern weil Fahren ein Ding
der Unmöglichkeit war. An die 25 Minuten schob und trug ich mein
Bike über die steile Rampe, die ca. 200 Höhenmeter bis hinauf
zum Wasserfall. Der Weg wurde wieder fahrbar und bald erreichte ich
die alte Pforzheimer Hütte.
Von der Sesvenna-Hütte tönte fröhliches Lachen und alpenländische
Musik herüber. Die auf der Terasse sitzenden Gäste genossen
die letzten Sonnenstrahlen. Für diese Idylle hatte ich keine Zeit.
Die länger werdenden Schatten drängten mich zur Eile, noch
lagen beschwerliche Kilometer vor mir. Die frisch verschneite Moorlandschaft
(Naturschutzgebiet) mit dem morastigen und steinübersäten
Trail zur Passhöhe auf 2309 m verhinderte ein zügiges Vorankommen.
In der schier endlosen Einöde kam mir ein Biker aus dem Val d‘
Uina entgegen. Kurzer Halt und fragen nach dem Wohin? Ein verwitterter,
hölzerner Wegweiser zeigte zur «Schweizer Staatsgrenze».
Nach dem Passieren eines ebenso verwitterten Drehkreuzes stand er plötzlich
da; der erste gelbe Wanderwegweiser: «Sur En 3 Stunden».
Ein Ruck ging durch meinen Körper, na also, weg war die Müdigkeit!
Es folgte ein Downhill auf schmalem Trampelpfad bis zum Eingang der
imposanten Uina-Schlucht, welche zu den absoluten Traumtouren für
Biker zu zählen ist (zur Geschichte der Schlucht und der Röhre
gibt es einen Link).
Der Blick aus der niederen, halben Röhre in die tosende Schlucht
ist der Lohn für den Aufstieg und war das absolute Highlight des
Tages. Dann und wann wagte ich auf dem ausgesetzten Weg, teilweise ohne
Geländer oder Sicherungsseil zu fahren. Wenn ich es für richtig
hielt stieg aber ohne zu zögern ab, weil hier Fehler absolut tödlich
sind. Ich tastete mich durch zwei kurze, finstere und nasse Tunnels
und gelangte schliesslich ans Ende der Schlucht. Eine letzte Tragepassage
über eine Geröllhalde hinunter und ich befand mich sozusagen
wieder auf bekanntem Gelände, denn das Val d’Uina hatte ich
im letzten Jahr bis zu dieser Geröllhalde erkundet. Durch einen
kleinen Lärchenwald und Wiesenweg fahrend erreichte ich schnell
die Alp Uina Dadaint auf 1800 m über Meer. Im Eilzugstempo und
hart am Limit, sauste ich die steilen Rampen durchs Val d’ Uina
hinunter. Bevor sich die Uina bei Sur En in den Inn ergiessen kann,
wird die Schlucht bei Chazotla noch einmal sehr eng. Auf dem Engadiner
Bikeweg kehrte ich via Pradella nach Scuol zurück.
Nun wartete noch das Dessert in Form von 270 Höhenmetern hinauf
nach Tarasp auf mich…
René Hugi